BGH IX ZB 160/09
Beschluss vom 22.10.09
Fassung InsO vor 01.07.14
Wer spielt
Schuldner erhält Verfahrenskostenstundung, Rechtspfleger widerruft. Schuldner gewinnt. Hagen.
Um was es geht
- Erwerbsobliegenheit
- Auskunftspflicht
- Verfahrenskostenstundung
- angemessene Tätigkeit bereits im Eröffnungsverfahren
- Messbare Beeinträchtigung
Verlauf
Die Schuldnerin begehrt die Verfahrenskostenstundung und wendet ein, sie könne kein pfändbares Einkommen erzielen, da sie ohne Berufsausbildung sei und drei Kinder betreue. Die Stundung der Verfahrenskosten wird wiederrufen.
Ergebnis
Die Stundung der Verfahrenskosten wird weiterhin gewährt.
Die bloß theoretische, tatsächlich aber unrealistische Möglichkeit, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erlangen, kann dem Schuldner nicht vorgehalten werden.
(…) Die Schuldnerin ist seit ihrem 18. Lebensjahr mit ihrem – mittlerweile gleichfalls insolventen – Mann verheiratet. Bei beiden handelt es sich um Migranten. Die Schuldnerin hat weder einen Beruf erlernt noch einen solchen jemals ausgeübt. Von ihrem Ehemann erhält sie aus dessen Nettoeinkommen von rund 2.100 € ebenso Unterhalt wie die drei gemeinsamen Kinder im Alter von (mittlerweile) 18, 14 und 12 Jahren. Auf Aufforderung des Insolvenzgerichts zur Auskunft über ihre Bemühungen um eine angemessene Erwerbstätigkeit ließ die Schuldnerin mitteilen, dass sie ihre drei Kinder betreue, daher nicht arbeite und als ungelernte, der deutschen Sprache nur unzureichend mächtige Kraft ohnehin kein pfändbares Einkommen erzielen könne.
(…) Das Insolvenzgericht hat die der Schuldnerin gewährte Verfahrenskostenstundung zu Unrecht wieder aufgehoben. Der – einzig in Betracht kommende – Aufhebungsgrund gemäß § 4c Nr. 4 InsO liegt nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann das Insolvenzgericht die zuvor nach § 4a InsO gewährte Stundung der Kosten des Insolvenzverfahrens aufheben, wenn der Schuldner keine angemessene Erwerbstätigkeit ausübt und, wenn er ohne Beschäftigung ist, sich nicht um eine solche bemüht oder eine zumutbare Tätigkeit ablehnt. Infolge des gesetzlichen Verweises auf § 296 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO ist die Stundung außerdem aufzuheben, wenn der Schuldner über die Erfüllung dieser Obliegenheit auch nach Fristsetzung keine Auskunft erteilt. Unter beiden Gesichtspunkten ist die Aufhebung nicht gerechtfertigt.
(…) Der Auskunftspflicht hat die Schuldnerin entgegen der Meinung des Insolvenzgerichts genügt. Sie hat unmißverständlich erklärt, sich nicht zur Aufnahme irgendeiner Erwerbstätigkeit oder auch nur zum Bemühen um eine solche Beschäftigung verpflichtet zu fühlen. Eine weitergehende Erklärung war von ihr nicht zu verlangen.
(…) Die Stundung kann auch nicht wegen der Weigerung der Schuldnerin aufgehoben werden, eine Erwerbstätigkeit auszuüben bzw. sich darum zu bemühen. Zwar besteht die Erwerbsobliegenheit nach § 4c Nr. 4 InsO – entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde – bereits ab dem Zeitpunkt der Stundungsbewilligung (BT-Drucks. 14/5680, S. 23; vgl. ferner LG Berlin ZInsO 2002, 680, 681; Wenzel in Kübler/Prütting/Bork, InsO § 4c Rn. 36; MünchKomm-InsO/Ganter, 2. Aufl. § 4c Rn. 11; Jaeger/Eckardt, InsO § 4c Rn. 57; HK-InsO/Kirchhof, 5. Aufl. § 4c Rn. 21). Eine Aufhebung der Stundung wegen einer Verletzung der Obliegenheit zu angemessener Erwerbstätigkeit setzt jedoch voraus, dass der Schuldner die Befriedigung seiner Gläubiger durch die Weigerung beeinträchtigt. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.
(…) Die Versagung der Restschuldbefreiung wegen Verletzung der in § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO bestimmten Erwerbsobliegenheit setzt voraus, dass hierdurch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger beeinträchtigt worden ist (§ 296 Abs. 1 S. 1 InsO). Hierfür genügt nicht eine abstrakte Gefährdung der Befriedigungsinteressen der Gläubiger, sondern nur eine messbare tatsächliche Beeinträchtigung (BGH, Beschl. v. 5. April 2006 – IX ZB 50/05, NZI 2006, 413). Im Rahmen einer Vergleichsrechnung ist die Differenz zwischen der Tilgung der Verbindlichkeiten mit und ohne Obliegenheitsverletzung zu ermitteln (FK-InsO/Ahrens, 5. Aufl. § 296 Rn. 11; Graf-Schlicker/Kexel, InsO § 296 Rn. 2; Wenzel, aaO § 296 Rn. 5; MünchKomm-InsO/Stephan, aaO § 296 Rn. 15; Uhlenbruck/Vallender, InsO 12. Aufl. § 296 Rn. 18). Nach Abzug aller vorrangig zu befriedigenden Verbindlichkeiten muss eine pfändbare Summe verblieben und dieser an die Insolvenzgläubiger zu verteilende Betrag durch die Obliegenheitsverletzung verkürzt worden sein (AG Göttingen ZInsO 2006, 384, 385; FK-InsO/Ahrens, aaO § 296 Rn. 13). Gibt der Schuldner eine Erwerbstätigkeit auf, die keine pfändbaren Beträge erbracht hat, oder lehnt er eine solche Beschäftigung ab oder zeigt er die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht an, die ihm insgesamt nur unpfändbare Einkünfte verschafft, kann darin zwar eine Obliegenheitsverletzung zu sehen sein, doch führt sie zu keiner Gläubigerbeeinträchtigung (LG Landshut ZinsO 2007, 615, 616; AG Düsseldorf ZVI 2007, 482, 483; FK-InsO/Ahrens, aaO; MünchKomm-InsO/Stephan, aaO; HK-InsO/Landfermann, aaO § 296 Rn. 3; Bindemann, Handbuch Verbraucherkonkurs 3. Aufl. Rn. 252; Schmerbach ZVI 2003, 256, 264).
(…) Der Tatbestand des § 4c Nr. 4 InsO enthält für die Aufhebung einer Stundungsbewilligung wegen Verstoßes gegen die auch insoweit geltende Erwerbsobliegenheit weder eine dem § 296 Abs. 1 S. 1 InsO entsprechende Regelung noch einen Verweis darauf. Sie ist jedoch entsprechend anzuwenden (so auch Jaeger/Eckardt, aaO § 4c Rn. 53; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 4c Rn. 21; MünchKomm-InsO/Ganter, aaO § 4c Rn. 21).
(…) Die Vorschriften über die Stundung der Verfahrenskosten sind mit dem Insolvenzänderungsgesetz vom 26. Oktober 2001 (BGBl. I S. 2710) eingeführt worden. Sie sollen mittellosen Schuldnern den Zugang zur Restschuldbefreiung erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen (BT-Drucks. 14/5680, S. 11 f).
(…) Deswegen wäre es ein Wertungswiderspruch, würde dieses Mittel zum Zweck an Voraussetzungen geknüpft, die weiter gehen als die Voraussetzungen des Zwecks, nämlich der Restschuldbefreiung.
(…) Einem weitergehenden selbstständigen Ziel dient der Aufhebungstatbestand des § 4c Nr. 4 InsO nicht (BT-Drucks. 14/5680, S. 12).
(…) Wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, Einkünfte jenseits der Pfändungsfreigrenzen zu erzielen, nützt ein etwaiger Zwang, dennoch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, keinem Verfahrensbeteiligten. Die bloße Hoffnung, die Aufnahme einer zunächst gering vergüteten Tätigkeit könnte dem Schuldner womöglich als Wiedereinstieg in die Arbeitswelt dienen, ihm langfristig einmal zu einer besser vergüteten Stellung verhelfen und ihn somit in die Lage versetzen, sodann seine Gläubiger mit einem Teil seines Einkommens zu befriedigen (vgl. Uhlenbruck/Vallender, aaO), hat dem Gesetzgeber keine Veranlassung gegeben, von der in § 296 Abs. 1 S. 1 InsO bestimmten Einschränkung abzusehen.
(…) Auf bloß theoretische, tatsächlich aber unrealistische Möglichkeiten, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erlangen, darf ein Schuldner nicht verwiesen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 7. Mai 2009 – IX ZB 133/07, NZI 2009, 482, 483; Münch-Komm-InsO/Ehricke, aaO § 295 Rn. 38; FK-InsO/Ahrens, aaO § 295 Rn. 29; ebenso für den Bereich des Unterhaltsrechts BGH, Urt. v. 4 Juni 1986 – IVb ZR 45/85, NJW 1986, 3080, 3081 f; v. 1. April 1987 – IVb ZR 133/86, NJW 1987, 2739, 2740).
Überraschungen
Im Stundungsverfahren gilt die Erwerbsobliegenheit schon im Eröffnungsverfahren, hört, hört.
AG Hagen, Entscheidung vom 11.09.2008 – 101 IK 227/07 -
LG Hagen, Entscheidung vom 29.12.2008 – 3 T 711/08 -
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